Wenn sich das Internet getriggert fühlt

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Letzte Woche passierte etwas, das eigentlich völlig banal war – und trotzdem das halbe Internet in Aufruhr versetzte.
Ein 24-Jähriger verließ um 7:00 Uhr morgens seine Wohnung, kam abends kurz vor 19:00 Uhr zurück, startete einen TikTok Live-Stream und sagte:
„Puh, war ein langer Tag.“

Mehr nicht.
Doch das reichte, um einen Shitstorm loszutreten.
Vor allem ältere Generationen fühlten sich getriggert: Wie könne jemand nach über elf Stunden außer Haus nicht den Wunsch äußern, noch ein paar Überstunden dranzuhängen?

Jede Nachrichtenseite, Talkshow und selbst ernannte Expertin fühlte sich berufen, etwas dazu zu sagen.
Der Tenor war klar: Wie faul die Jugend doch ist! Und natürlich steht die ganze Gen Z gleich mit am Pranger.

Das perfekte Timing der Politik

Passend dazu lief gerade die politische Diskussion darüber, wie man die deutsche Wirtschaft „ankurbeln“ könnte – natürlich durch längeres und intensiveres Arbeiten.
Ob Samstagsarbeit, weniger Feiertage oder längere Wochen – plötzlich klang alles nach „Zurück in die 70er“.

Und sofort war für viele klar: Da muss doch ein Zusammenhang bestehen!
Die Jungen sind faul, also geht die Wirtschaft den Bach runter.
Die Lösung? Mehr Arbeit! Denn: „Zeit ist Geld – und mehr Zeit ist mehr Geld.“

Ich habe schon einmal geschrieben, dass genau diese Annahme grundfalsch ist.
Zeit allein bedeutet weder Qualität noch Produktivität.
Dieses Denken stammt aus den 60er- und 70er-Jahren – aus einer Zeit, in der die Welt, die Arbeit und die Wirtschaft völlig anders funktionierten.
Heute haben sich die Grundvoraussetzungen komplett verändert.

Mehr Arbeitszeit heißt nicht mehr Arbeit

Die Idee, dass man mehr Geld verdient, wenn alle einfach mehr arbeiten, funktioniert nur, wenn überhaupt genug Arbeit vorhanden ist.
Damals, in den 60ern und 70ern, gab es Arbeit im Überfluss. Man konnte schuften, so viel man wollte – die Arbeit ging nicht aus.
Heute ist das Gegenteil der Fall: Das Problem ist nicht Faulheit, sondern das Fehlen sinnvoller Arbeit.

Unsere Wirtschaft ist so effizient geworden, dass sie in kürzester Zeit produziert, was früher Tage dauerte.
Doch die Menschen brauchen nicht mehr als früher – im Gegenteil.
Weihnachten steht vor der Tür, und viele wissen gar nicht, was sie sich wünschen sollen, weil sie im Grunde schon alles haben.
Geräte halten länger, Fernseher werden günstiger, aber kaum besser.
Nach dem IT-Boom der späten 90er und frühen 2000er hat sich das Tempo ohnehin verlangsamt.

Also bringt es wenig, Menschen einfach acht Stunden mehr pro Woche arbeiten zu lassen, wenn sie ihren Job ohnehin in 40 Stunden entspannt schaffen.
Das verlängert nur den Tag, senkt aber die Effizienz – und kostet am Ende mehr Geld, als es einbringt.

Wenn ein Automobilhersteller 3000 Mitarbeitende entlässt, liegt das nicht daran, dass sie alle faul waren.
Und der Hersteller steht danach auch nicht verzweifelt da und fragt sich, wer jetzt die Arbeit erledigen soll – denn die Arbeit ist gar nicht mehr da.
Das ist keine Schuld der Arbeiter, sondern schlicht ein wirtschaftlicher Umstand.

Mehr Arbeitszeit schafft keine Arbeit.
Teilzeitstellen existieren heute nicht, weil Menschen weniger leisten wollen, sondern weil weniger Arbeit anfällt.
Und ausländische Unternehmen werden nicht plötzlich in Deutschland produzieren, nur weil wir hier 16 Stunden länger in der Woche schuften.
Die Produktionskosten bleiben zu hoch – also gehen sie dorthin, wo es günstiger ist.

Wer genug Arbeit und faire Bezahlung bietet, findet auch Menschen, die sie erledigen.
Die angebliche „faule Gen Z“ ist also nicht das Problem – sie ist nur ein praktischer Sündenbock, um von den echten, komplexen Ursachen abzulenken.

Eine Randbemerkung

In den Kommentarspalten liest man oft:
„Früher haben wir auch von 6 bis 18 Uhr gearbeitet! Die Jugend ist einfach faul!“

Das ist dieselbe Generation, die einem erzählt, Homeoffice sei ja ganz praktisch, „weil da merkt ja keiner, wenn man zwischendurch mal einen kleinen Schluck nimmt“.
Oder: „Auf der Arbeit hatte ich meinen Spind, da stand immer was drin – da ging man halt ab und zu vorbei.“
Nach Feierabend dann noch zwei Bier am Arbeitsplatz.

Das ist kein Witz – das wurde mir genau so erzählt.
Und so sah für viele das Arbeitsleben eben aus:
Harte Arbeit, viel Alkohol, und das war gesellschaftlich völlig normal.
Wer auf Montage war, ging abends in die nächste Kneipe, um sich „ordentlich einen zu gönnen“.
Weil: „Man war ja fleißig, man hat’s sich verdient.“

Und genau diese Leute werfen der jungen Generation heute vor, sie habe ein falsches Verhältnis zur Arbeit.
Dabei war es bei ihnen ganz selbstverständlich, die Belastung mit Alkohol zu betäuben – und viele landeten genau deshalb in der Abhängigkeit.

Es ist die Generation, für die Alkoholismus fast schon zum guten Ton gehörte, „weil die ja immer so gut drauf waren“.
Wie gesagt: reale Gespräche, nicht ausgedacht.

Fazit

Die Empörung über den TikTok-Post zeigt nicht, dass die Jugend faul ist – sondern wie sehr viele Menschen immer noch an überholten Vorstellungen von Arbeit festhalten.
Arbeiten heißt heute nicht mehr, 12 Stunden im Betrieb zu stehen, sondern effizient, kreativ und gesund zu bleiben.
Wer das als Schwäche versteht, hat das eigentliche Problem vielleicht gar nicht bei der Jugend – sondern im eigenen Weltbild.
User annonyme 2025-11-04 19:14

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